Lothar Brinke
"I`m down" - Desaster im Party- Club
Wenn ich meinen beiden Söhnen vom "Tanz für die Jugend" in der Siegerlandhalle erzähle, wo ich mit Anzug, Krawatte und Nyltest-Hemd hinging, oder von dem Jungen aus der Nachbarschaft, der die Haare viel länger tragen durfte als ich, und den Radiosendern, die meine Musik nicht spielten, dann werde ich den Verdacht nicht los, dass sie denken: "Der Großvater erzählt wieder aus Kaiser Willhelms Zeiten."
Für meine Eltern muss diese Zeit, Anfang der 60er, sehr hart gewesen sein. Alles änderte sich plötzlich, Frisuren (jeder Millimeter mehr auf dem Kopf musste durch Straßefegen oder Ähnliches hart erarbeitet werden), Kleidung und Musik. Besonders in der Musik war der Übergang von Gerhard Wendlandts "Tanze mit mir in den Morgen" zu den Kinks und ihrem "You really got me" für die Eltern schwer nachvollziehbar.
Doch das Schallplattenangebot der neuen Beat Musik war in Siegen anfangs sehr klein. Das änderte sich aber Ende 1964. An den Schaufenstern der Musikhäuser "Loos", "Bahnschulte" und "Dahlmann" (gibt´s alle nicht mehr) drückten meine Freunde und ich uns die Nasen platt. Schallplatten von den Beatles, Rolling Stones oder den Berliner Lords gab es in Hülle und Fülle. Man hatte auch in Siegen den Trend schnell erkannt.
Die Radiosender, die man empfangen konnte, tasteten sich vorsichtig an die Beat Musik heran. Vorreiter war der Hessische Rundfunk mit Hans Verres ("Schlagerbörse") und Atze Schmidt ("Teens, Twens, Toptime"). Nur ein- oder zweimal in der Woche "Hottentotten-Musik", wie die Eltern zu sagen pflegten - heute unvorstellbar.
Eine Verwandte aus Hanau kam alle paar Wochen zu Besuch nach Eiserfeld und spielte mir und meinen Freunden Schallplatten vor, die wir noch nie gehört hatten. Fast alles amerikanische Sänger aus den 50ern. Wir dachten bis dahin, Peter Kraus sei der größte Rock´ n´ Roller aller Zeiten, aber Chuck Berry, Little Richard und Elvis waren einfach besser (Sorry Peter!).
Interessant war, dass die Beatgruppen anfangs kaum eigenes Material spielten, sondern hauptsächlich Songs anderer Interpreten. Das war besonders bei Tony Sheridan aus England und den Rattles aus Hamburg festzustellen. Diese traten Ende 64 in der Siegerlandhalle bei der "Deutschen Schlagerparade" auf. Beeindruckend war das Outfit von Tony und den Rattles: Enge Hosen, Lederwesten und spitze Stiefel. So was gab es in Siegen nicht zu kaufen. Die Zeit der Live-Musik brach in Siegen an. Im "Party Club" oder "Moulin Rouge" spielten die Profis der Beat Musik, beim "Tanz für die Jugend" die regionalen Gruppen, aber einmal auch die Rattles mit ihrem Frontmann Achim Reichel, der bei den Mädels besonders gut ankam. (Eintritt bei den Rattles: zwei Mark!) Das Angebot im "Party Club" vom August 65 war schon ein richtiges Großstadtprogramm. Bands aus der ganzen Bundesrepublik oder England wurden für einen Monat engagiert. Zwischendurch gab es Sondergastspiele von Top Ten Gruppen wie dem quirligen Liverpooler Casey Jones und seinen Governers (unvergessen die "Jack the Ripper"-Show).
Wochenlang geübt - alles für die Katz!
Mein Auftritt beim Gesangswettbewerb im "Party Club", der jeden Donnerstag stattfand, sollte nicht unerwähnt bleiben. Ich traf mich mit meiner Begleitband, den "Bats" aus Hamburg (sie hatten schon mehrere Platten veröffentlicht), im Hotel "Haus Sonnenberg" in Eiserfeld, ein paar Tage vor meinem großen Auftritt. Ich erklärte ihnen, dass ich das Lied "I´m down" von den Beatles singen wollte. "Kein Problem," versicherte der Chef der Band, "das spielen wir". Die "Bats" hatten an dem Abend schon reichlich Alkohol konsumiert. Als ich mit schlotternden Knien am besagten Abend auf die Bühne kam und mein Lied anstimmen wollte, wusste keiner der Jungs mehr etwas von unserer Absprache. Wir versuchten es trotzdem, aber es wurde ein Desaster erster Klasse. Ich hatte wochenlang geübt, alles für die Katz. Was in dieser Zeit aus England herüberschwappte, wurde von uns aufgesogen wie ein Schwamm. Der Sohn eines Eiserfelder Gastwirts brachte nach einem Schüleraustausch aus Liverpool jede Menge Schallplatten mit. Wir verbrachten die nächsten Wochen damit, diese Musik zu hören und nachzuspielen.
Die Liverpool-Beat-Ära war 1967 endgültig vorbei. Die Musik wurde komplizierter. Neue Gruppen wie "The Who" aus London waren international angesagt. Und das Unglaubliche geschah: Gerade diese Band sollte in die Siegerlandhalle kommen. Grosse gelbe Plakate kündigten in ganz Siegen Pete Townshend und seine Mannen an. Am 15. April 1967 gegen 18 Uhr befestigte ein Roadie mit langen Nägeln das Schlagzeug des Drummers Keith Moon im heiligen Boden der Siegerlandhallen-Bühne. Nach den ersten Hammerschlägen eilte ein Bediensteter herbei und versuchte (wahrscheinlich in einem Gemisch aus Siegerländer Platt und Englisch), den Mann daran zu hindern. Dieser verstand weder Siegerländer Platt noch Englisch und hämmerte ungehindert weiter. Irgendwie wurde man sich dann aber doch einig.
Das Konzert ist mir bis heute unvergessen. Der Vorhang ging auf, und die "Who" begannen nicht mit "My Generation" oder "Pictures of Lily", sondern mit dem Beach Boys-Song "Barbara Ann". Ein gelungener Gag. Von der ersten Minute an brannte ein musikalisches Feuerwerk ab. Schlagzeug, Stakkatos, dann wurden Gitarren zertrümmert. Ein ansonsten ruhiger Bekannter stand plötzlich neben mir auf seinem Stuhl und tanzte und klatschte mit. Ich auch. Eine Faszination ging von der Band aus, wie ich sie danach nie wieder erlebt habe.
Keine Gitarre der "Marke Sperrmüll"
Oft hört man: "In den 60ern war einfach alles besser. Heute wird keine gute Musik mehr gemacht." Ich habe in der letzten Zeit einige Siegerländer Nachwuchsbands gehört. Ich persönlich behaupte, die musikalische Qualität ist besser als die in den 60ern, allerdings spielt heute keine Schülerband mehr auf umgebauten Radiogeräten oder Gitarren der Marke "Sperrmüll". Und wenn heute ein 17-Jähriger (wie kürzlich gehört) "Come Together" von den Beatles singt, sagt der stolze Vater in der ersten Reihe leise zu seinem Nachbarn: "Das war noch Musik." Und nicht wie früher seine Eltern: "Immer diese Hottentotten-Musik".